Vortrag am 7.4.2016 im Grazer Karmeliterhof
Ralf Dahrendorf, der große deutsch-britische Soziologe, Politiker und Publizist, zum Sir geadelt, ein Gesellschaftsliberaler im besten Sinne – also nicht neoliberal, auf diesen Begriff werde ich später zurückkommen – hat 1983 im deutschen Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ das Ende der Sozialdemokratie verkündet. 1983 war exakt das Jahr, in dem Österreichs sozialdemokratischer Bundeskanzler Bruno Kreisky nach 13 Jahren Alleinregierung den absoluten Rückhalt des Parlaments verlor.
Dahrendorf vertrat die Auffassung, die organisierte Arbeiterbewegung habe die Grundfesten des modernen Staates geschaffen: Demokratie mit starken gewaltenteilenden Institutionen, Freiheit, Rechtsstaat, eine halbwegs durchlässige Bildung und sozialen Ausgleich im Rahmen eines friedvollen Sozial- und Wohlfahrtsstaates. Damit sei die Arbeit getan.
Ich halte Dahrendorfs Befund für richtig, wobei ich anmerken darf, dass auch viele sozial und demokratisch denkende Konservative – insbesondere sind hier zahlreiche ChristgewerkschafterInnen anzusprechen – bereits früh an diesem Prozess mitgewirkt haben.
Die Gründung der Ersten Republik 1918 brachte eine demokratische und rechtsstaatliche Verfassung, die – ein Juwel der Aufklärung und der Moderne – nicht nur vielfach in Europa und Übersee als Vorbild dienen sollte, sondern auch in weiten Teilen heute in Österreich noch in Kraft ist.
Die Umwälzung von 1918 führte auch zu einem ganz bemerkenswerten Schub in der Sozial- und Bildungsgesetzgebung unter Ferdinand Hanusch und Otto Glöckel, erste Ansätze eines Sozial- und Wohlfahrtsstaates. Die – ebenso in der Verfassung verankerte – Emanzipation aller Bevölkerungsteile, also auch der Arbeiterinnen und Arbeiter, provozierte erhebliche Konflikte, weil insbesondere die politische Elite der Christlich-Sozialen und Deutschnationalen diesen „Revolutionären Schutt“, wie die Verfassung und so wichtigen Schutzgesetze für die Arbeiterschaft – wie 8 Stundentag und Arbeitslosenversicherung, Mieterschutz und Abschaffung der Kinderarbeit und vieles mehr – zynisch bezeichnet wurde, wieder wegzuräumen. Die Errichtung der österreichischen, dann der nationalsozialistischen Diktatur war die bekannte Folge.
Die Konflikte der Ersten Republik führten aber auch zu politischer Läuterung: Die einen sahen ein, dass der ungebremste Kapitalismus unmittelbar in Krieg und Faschismus geführt hatte, die anderen verzichteten auf ihren revolutionären Gestus, weil ihr Ziel – nämlich die Errichtung eines umfassenden demokratischen Sozial- und Wohlfahrtsstaates – auch evolutionär erreicht werden konnte.
Leopold Figl, ein Funktionär der Diktatur und Adolf Schärf, der ehemalige Häftling des Anhaltelagers Wöllersdorf gaben sich nicht nur symbolisch die Hände.
Meist unter der Führung konservativer Parteien – fast eine Ironie der Geschichte –, so etwa auch in Österreich, wurden in West- und Mitteleuropa sozialdemokratisch geprägte emanzipatorische Programme umgesetzt. Als vorläufiger Höhepunkt dieses konsensorientierten Strebens nach sozialem Frieden in einem demokratischen Wohlfahrtsstaat sind die 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts zu betrachten, wo die Sozialdemokratie selbst zu maßgeblichen – teilweise mit absoluten Mehrheiten in den Parlamenten abgesicherten – Gestaltungsmöglichkeiten in vielen Ländern Europas gelangten: Willi Brandt und Helmut Schmidt in der Bundesrepublik Deutschland, Olaf Palme in Schweden, Bruno Kreisky in Österreich.
Wie manifestierte sich nun – und das ist ja heute unser eigentliches Thema – diese bemerkenswerte und noch heute viel diskutierte Politik am Beispiel Österreichs?
Ich darf mit der Sozialpolitik beginnen:
In der Sozialpolitik offenbarte sich in besonderem Maße jenes Phänomen, das ich oben schon kurz angesprochen habe. Die Sozialpolitik war eine – naturgemäß – sozialdemokratische, aber das fiel kaum auf, weil der Konsens über die sozialen Ziele und Aufgaben des Staates über alle politischen Kräfte hinweg erzielt wurde. Sicherlich: Die Fülle der sozialen Verbesserungen, insbesondere für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, offenbart bemerkbare sozialdemokratische Akzente.
Aber: Sämtliche dieser Sozialreformen, die ich im Detail noch ansprechen werde, hatte zuvor die Sozialpartnerschaft in den Grundzügen ausgearbeitet. Diese Verhandlungen – Kapital und Arbeit auf Augenhöhe – gewährleisteten, dass – wie schon in den großen Koalitionen nach 1945 und geradezu selbstverständlich auch unter der Alleinregierung der ÖVP unter Bundeskanzler Josef Klaus 1966 bis 1970 – keine wesentlichen Interessen in einem pluralistisch-demokratischen Staat unter die Räder kamen und die Kompromisse tragfähig und in der breiten Bevölkerung akzeptiert waren.
Ich sage es nochmals: Sowohl in der Alleinregierung der ÖVP als auch in jener der SPÖ wurde nicht einfach drübergefahren, wie etwa später in der blau-schwarzen Koalition 2000 bis 2006. Als Arbeitnehmer-Interessenvertreter erinnere ich mich etwa an extrem kurze Gesetzesbegutachtungsfristen, die eine faire Partizipation aller maßgeblichen Kräfte nahezu ausschlossen. Drei Tage etwa für eine hochkomplexe – im Übrigen vor allem für die Jungen und die Frauen enorm verschlechternde – Pensionsreform ist de facto eine Ausgrenzung. „Speed kills“ lautete die Parole. Auf der Strecke blieb das soziale Augenmaß.
Da bin ich schon bei einem wesentlichen Punkt der Reformpolitik der 1970er Jahre. Will man sie aus der Sicht des sozialen Fortschritts betrachten, trägt sie ihren Namen zu Recht. Durch jedes umgesetzte Gesetzesvorhaben wurde der Sozial- und Wohlfahrtsstaat gestärkt.Anders als die sogenannte „Reformpolitik“ 2000 bis 2006. Wir erinnern uns noch an die verschlechternden Einschnitte: Die sogenannte Pensionsreform mit einem Wertverlust von bis zu 30% habe ich schon angesprochen, dazu etwa auch Urlaubskürzung bei Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis, Ambulanzgebühren, Besteuerung der Versehrtenrenten und zahlreiche Grauslichkeiten mehr, vieles vom Verfassungsgerichtshof wegen Nichteinhaltens der elementarsten verfassungsrechtlichen Spielregeln aufgehoben.
Und auch zu der – in neoliberalen Kreisen so sehr gescholtenen – Sozialpartnerschaft ist Grundsätzliches festzuhalten: Die Sozialpartnerschaft – bestehend aus Österreichischer Gewerkschaftsbund, Wirtschaftskammer, Landwirtschaftskammer und Arbeiterkammer – ist keine undemokratische Nebenregierung, sondern das Herzstück der neuen Politik der Zweiten Republik und begründete die beispiellose wirtschaftliche Erfolgsstory Österreichs.
Anton Benya als Präsident des österreichischen Gewerkschaftsbundes und sein kongeniales Pendant in der Wirtschaftskammer, Rudolf Sallinger, brachten gerade in Zeiten der Alleinregierungen – wo man das ideologische Gegenüber einfach kalt stellen hätte können –geradezu zur Hochblüte. Und auch heute hat die Sozialpartnerschaft keinesfalls ausgedient, sondern ist gerade bei der Bewältigung immer komplexer und schwieriger werdenden politischen Aufgabenstellungen und Herausforderungen unentbehrlich.
Nun aber zu den konkreten sozialpolitischen Maßnahmen, von denen wir heute noch profitieren:
Ein Gesetz möchte ich an die Spitze stellen, weil es das verwirklicht, was Bruno Kreisky als maßgeblicher Gestalter der Epoche einmal als „Durchflutung aller Lebensbereiche mit Demokratie“ bezeichnet hat. Das seit 1947 bestehende Betriebsrätegesetz mit der so wichtigen Außenseiterwirkung der Kollektivverträge – nämlich dass Mindestlöhne nicht nur für Gewerkschaftsmitglieder gelten – wurde im Sinne der Mitwirkung der ArbeitnehmerInnen in den Betrieben und Unternehmen ausgebaut.
Das 1973 beschlossene Arbeitsverfassungsgesetz sieht wichtige Mitwirkungsrechte der demokratisch gewählten Betriebsräte vor, vor allem bei geplanten Kündigungen, Betriebsänderungen, bei Versetzungen oder Disziplinarmaßnahmen. Jede wesentliche Entscheidung des Unternehmens ist mit dem Betriebsrat zu erörtern und zu verhandeln, in Kapitalgesellschaften und großen Vereinen sind die Betriebsräte zumindest mit einem Drittel der Mitglieder in den Aufsichtsräten vertreten. Die Mitwirkungsrechte der Belegschaftsvertreter wurden in den nachfolgenden Jahren sogar noch gestärkt und ausgebaut.
Ein Jahr später – 1974 – schuf man erstmals eine gesetzliche
Entgeltfortzahlung für ArbeiterInnen bei Krankheit oder Unfall und
stellte damit die ArbeiterInnen den Angestellten weitgehend gleich.
Zuvor waren die Arbeiter ausschließlich auf das Krankengeld der Krankenkassen angewiesen, das bloß 50% des Bruttoverdienstes abdeckt, wobei nur ein paar wenige Kollektivverträge eine gewisse Besserstellung boten.
Manche – im modernen Arbeitsleben in keiner Weise zu rechtfertigenden – Differenzierungen zwischen ArbeiterInnen und Angestellten sind im Übrigen bis heute aufrecht, etwa in der schon angesprochenen Entgeltfortzahlung im Krankenstand oder anderen Dienstverhinderungen oder auch bei den Kündigungsfristen. Während der Arbeitgeber bei einem Angestellten eine Kündigungsfrist von mindestens 6 Wochen einhalten muss, kann er etwa einen Bauarbeiter im Sinne des anzuwendenden Kollektivvertrages Bauhilfsgewerbe bei einer Betriebszugehörigkeit bis zu 10 Jahren innerhalb einer Frist von nur einer Woche oder laut dem anzuwendenden Kollektivvertrag Baugewerbe und Bauindustrie bei einer Betriebszugehörigkeit bis zu 5 Jahren sogar jederzeit zum letzten Arbeitstag einer Kalenderwoche auf die Straße setzen.
Ein wahrer Durchbruch gelang auch im Urlaubsrecht. Mit großer
Unterstützung von Gewerkschaften und Arbeiterkammer gelang es
mit einer Anfang 1973 in Kraft tretenden Novelle, den Mindesturlaub
von 2 auf 4 Wochen pro Arbeitsjahr anzuheben. Weitere Novellen folgten, seit 1986 beträgt der Mindesturlaub 5 Wochen, bei langjähriger Beschäftigung sogar 6 Wochen.
Der Anspruch auf 6 Wochen Urlaub ist allerdings auf Grund der hohen Fluktuation auf dem Arbeitsmarkt heute kaum mehr zu erreichen, weshalb die Arbeitnehmervertretungen fordern, allen älteren ArbeitnehmerInnen den Mehrurlaub zu gewähren. Im öffentlichen Dienst – also bei den Arbeitsverhältnissen zu Bund, Land und Gemeinden – ist dieses so wichtige Vorhaben bereits verwirklicht.
Meilensteine wurden auch bei der Arbeitszeit gesetzt. Wir müssen uns vor Augen halten, dass noch an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert 72-Stunden-Wochen bei bis zu 14 Stunden pro Tag üblich waren. Die frühen ersten Maifeiern der Arbeiterbewegung hatten im Übrigen zum Ziel, die Arbeitszeit auf 8 Stunden pro Tag und damit die brutale Ausbeutung der ArbeitnehmerInnen zu begrenzen.
1959 kam die 45-Stunden-Woche, und die konservative Alleinregierung mit Josef Klaus beschloss 1969 das neue Arbeitszeitgesetz, das die 40-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich in Etappen bis 1975 einführte. Die Regierung ließ sich dabei gerne von den Sozialpartnern beraten, wobei allerdings auch ein von den Sozialdemokraten unterstütztes Volksbegehren mit 900.000 Unterschriften – eines der erfolgreichsten – seine Wirkung tat. Gleichzeitig wurde auch ein gesetzlicher Mindestzuschlag von 50% für Überstunden eingeführt.
Seitdem – seit mehr als 40 Jahren also! – hat sich bei der Arbeitszeit nicht mehr Wesentliches verändert, manche Kollektivverträge sehen 38,5 oder 38 Stunden pro Woche vor. Dies überrascht doch, ist ja die Produktivität in der Zwischenzeit enorm gestiegen. Ja im Gegenteil, wir sind gerade dabei, die Lebensarbeitszeit durch die Anhebung des faktischen Pensionsalters zu verlängern.
Wir werden umdenken müssen, zumal – an sich zu begrüßen – mehr und mehr Arbeit wegfällt. Man denke etwa an die Administrativkräfte – Sekretärinnen, deren Arbeitsplätze auf Grund der Digitalisierung in der Zukunft vielfach verloren gehen werden. Wir sollten uns vor Augen halten, dass die durchschnittliche Arbeitszeit der Erwerbstätigen in Österreich 43,5 Stunden pro Woche beträgt, also weit über das gesetzliche Normmaß hinausgeht. In Deutschland beträgt die durchschnittliche Arbeitszeit 41,5 Stunden, in Dänemark 37,8 Stunden.
300 Millionen Überstunden pro Jahr müssen in Österreich geleistet werden, davon 60 Millionen unbezahlt.
Wir werden uns daher wieder ernsthaft über Arbeitszeitverkürzungen unterhalten müssen, selbstverständlich unter vollem Lohnausgleich, um die Kaufkraft und damit auch eine prosperierende, wachstumsorientierte Wirtschaft nicht zu gefährden.
Der Arbeitsforscher Jörg Flecker forderte unlängst in der renommierten deutschen Wochen-Zeitschrift „Die Zeit“ eine Verkürzung der Arbeitszeit auf 30 Stunden. Allerdings geht das nicht im Alleingang, was der ambitionierte Vorstoß Frankreichs – dort haben wir seit 2000 die 35 Stunden-Woche – zeigt.
Die Wochenarbeitszeit ist im Übrigen auch deshalb so hoch, weil wir in Österreich sehr konservative Geschlechterrollen haben. Der Wirtschaftsforscher Markus Matterbauer wörtlich: „Der Mann macht Vollzeit mit vielen Überstunden, die Frau schafft neben Haushalt und Kindern höchstens Teilzeit.“ Das erklärt auch, warum die Lohnschere zwischen Mann und Frau in Österreich größer ist als etwa in Deutschland. (Alle Zitate: Die Zeit 11/2016, 3.3.2016)
Die Reformpolitik der 70er Jahre brachte weiters Abfertigungen auch für ArbeiterInnen und – eine besonders wichtige sozialpolitische Maßnahme – das Insolvenz-Ausfallgeld-Gesetz. Hinter diesem sehr unverständlichen Wort-Ungetüm verbirgt sich eine sozialpolitische Maßnahme, deren Wert gar nicht überschätzt werden kann. Wurde früher ein Unternehmen insolvent – also ging es in Konkurs oder Ausgleich – bekamen die ArbeiternehmerInnen für die bereits geleistete Arbeit in der Regel gar nichts oder bloß eine geringe Quote von 5 bis 20%.
Seit der Einführung dieses Gesetzes ist das gesamte ausstehende Entgelt gesichert, also Löhne, Sonderzahlungen, Urlaubsentschädigungen, Abfertigungen und so weiter. Allein im Vorjahr haben wir, als Arbeiterkammer, für betroffene ArbeitnehmerInnen in der Steiermark 29 Millionen erwirkt, die andernfalls verloren gegangen wären. 2014 waren es sogar 46 Millionen.
In vielen anderen EU-Ländern gibt es eine solch effiziente Garantieeinrichtung im Übrigen nicht. Da schauen die ArbeitnehmerInnen fast zur Gänze durch die Finger, etwa in Ungarn oder in Slowenien, wo wir immer wieder versuchen, Ansprüche unserer Mitglieder durchzusetzen und an der Gesetzeslage und oftmals auch an der mangelnden Rechtsstaatlichkeit dieser Ländern scheitern.
Mit dem Berufsausbildungsgesetz 1969 wurde – als noch in der Regierungsperiode von Josef Klaus – auch die Lehrlingsausbildung auf völlig neue Beine gestellt und begründete die „triale Ausbildung“ – ein internationales Erfolgsmodel! – in der heutigen Form. Die Rechte der Lehrlinge wurden wesentlich gestärkt.
Ich habe hier – der Zeitdisziplin geschuldet – nur wenige Beispiele dieser erfolgreichen Sozialreformpolitik im Sinne des Ausbaus des Sozial- und Wohlfahrtsstaates ansprechen können. Auf ein Gesetz möchte ich aber noch besonders eingehen, weil es exemplarisch die humanistisch-emanzipatorische Ausrichtung dieser Epoche zeigt: Am 1.7.1979 trat das „Bundesgesetz (...) über die Gleichbehandlung von Frau und Mann bei Festsetzung des Entgelts“ in Kraft – mittlerweile weit bekannt unter dem Namen Gleichbehandlungsgesetz.
Es verbot – wie der Titel schon sagt – eine Ungleichbehandlung der
Frau bei der Entlohnung. Bis dahin gab es – heute unvorstellbar –
etwa Kollektivverträge, die unterschiedliche Entgeltmindestsätze für
Frauen und Männer vorsahen. Es war der Beginn eines mühsamen
Weges der Emanzipation, der bis heute nicht abgeschlossen ist. Zur
Zeit – vor etwa einem Monat wurde ja Weltfrauentag begangen –
beträgt der Einkommensunterschied zwischen Mann und Frau noch
immer 23 Prozent. Für das Jahr 2015 haben Frauenorganisationen
errechnet, dass eine Frau beispielsweise im Jahr 2015 ab dem 11.
Oktober 2015 für das restliche Kalenderjahr unentgeltlich arbeitet.
Selbst wenn man berücksichtigt, dass Frauen vorwiegend in Niedriglohnbranchen beschäftigt sind – und das sind nicht nur die viel zitierten Friseurinnen, sondern auch Frauen, die in Pflege-, Gesundheits- und Sozialberufen und vielfach in Teilzeit beschäftigt sind, beträgt der – nicht erklärbare und keinesfalls rechtfertigbare – Lohnunterschied noch immer 23 Prozent.
Als Arbeiterkammer versuchen wir in Veranstaltungen, Publikationen und Aussendungen immer wieder, junge Frauen für Berufe in höherzahlenden Branchen zu interessieren. Wir weisen darauf hin, dass Teilzeit eine wahre Armutsfalle – vor allem im späteren Alter – ist. Und wir versuchen, gesetzliche Änderungen zu erwirken, um die Unsitte, Frauen schlechter zu bezahlen als Männer, endlich zu beenden. Ein Beispiel dafür ist die gesetzliche Einkommens- Transparenz, das größere Unternehmen verpflichtet, anonymisiert Einkommen von Männern und Frauen differenziert nach ihren Verwendungen aufzulisten. Diskriminierende Unterschiede werden dadurch deutlich. Wir hoffen, dass diese Einkommens-Transparenz in naher Zukunft für alle Unternehmen gilt und in der Folge Einkommensdiskriminierungen endlich aufgezeigt werden.
Mittlerweile ist es auch gelungen, das Gleichbehandlungsgesetz zu einem umfassenden Anti-Diskriminierungsinstrument auszubauen. Es schützt mittlerweile nicht nur bei Diskriminierungen auf Grund des Geschlechts – so etwa bei sexuellen Übergriffen –, sondern auch bei Ungleichbehandlungen auf Grund der Ethnie, der Religionszugehörigkeit, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung. Besonders stark ist dieser Schutz freilich im Arbeitsleben.
Wie gesagt, all diese von mir angesprochenen sozialpolitischen Meilensteine wurden nahezu zur Gänze einstimmig im Parlament beschlossen, fanden also breiteste Zustimmung. Dass der Sozial- und Wohlfahrtsstaat alle Bevölkerungsgruppen umfassen soll, zeigte etwa das neue Mutterschutzgesetz 1979. Es gelang, den Mutterschutz endlich auch auf Bäuerinnen und gewerblich selbstständige Frauen auszudehnen, ein Verdienst vor allem von Johanna Dohnal in ihrer neubesetzten und bahnbrechenden Funktion als Staatssekretärin für allgemeine Frauenfragen im Bundeskanzleramt.
Einige, schon damals formulierte sozialpolitische Anliegen, konnten allerdings vorerst nicht umgesetzt werden. Die Möglichkeit der Bildungsfreistellung für alle ArbeitnehmerInnen etwa, die wir erst später auf sehr bescheidenem Niveau – Stichworte Bildungskarenz und Weiterbildungsgeld – verwirklicht haben.
Oder eine bundeseinheitliche Armuts-Bekämpfung – erst im Jahre 2011 in Form der bedarfsorientierten Mindestsicherung realisiert. Es ist beschämend, dass einzelne Bundesländer heute wieder versuchen, diese so wichtige Maßnahme in der Armutsbekämpfung und für den sozialen Frieden zu unterlaufen. Das Motto lautet: Kürzen, kürzen, kürzen. Ich hoffe doch, dass der Verfassungsgerichtshof diesem populistischen Unwesen einen Riegel vorschieben wird.
Und man darf die Frage stellen: Was will man eigentlich? Zelte und Pappkartons wie in den Parks und Straßen von London und New York oder Suppenküchen wie in Rumänien und Bulgarien?
Die Wirtschaftspolitik der 1970er Jahre ist an sich nicht mein Thema heute, ich darf sie aber dennoch kurz anreißen, weil sie von der Sozialpolitik nicht zu trennen ist. Auch hier gab es Kontinuität zu den konservativ geführten früheren Regierungen. An dem grundsätzlichen Primat der Marktwirtschaft – der konservative Vizekanzler Josef Riegler sollte später den Begriff „ökosoziale Marktwirtschaft“ prägen – wurde nicht gerüttelt.
Freilich setzte auch hier die Regierung Kreisky progressive Akzente im Sinne von mehr Gerechtigkeit und Gleichheit. Seit 1945 hatte sich die Schere zwischen Arm und Reich langsam geschlossen, nunmehr – in der Regierung Kreisky – beschleunigte sich dieser Prozess. Trotz Weltwirtschaftskrise, die sich seit 1973 manifestierte, entwickelte sich Österreich wirtschaftlich gut – gestützt auf den sprichwörtlichen österreichischen All-Parteien-Konsens und die weiterhin hervorragend funktionierende Sozialpartnerschaft.
Umstritten waren allerdings die Budgets der Regierung Kreisky. Nach Budgetüberschüssen der ersten Jahre griff sie auf Grund der Krise auf die wirtschaftspolitischen Thesen von John Maynard Keynes, eines britischen Sozialökonomen, zurück. Keynesianismus bedeutet, dass man eine gewisse Staatsverschuldung in Krisenzeiten in Kauf nimmt, um die Arbeitslosenquote niedrig zu halten und den Sozial- und Wohlfahrtsstaat für alle zu sichern. Der Konsum – enorm wichtig für die Wirtschaft – bleibt hoch, die soziale Absicherung bricht nicht ein.
Berühmt wurden Kreiskys Worte: „Ein paar Milliarden – Schilling selbstverständlich – mehr Schulden bereiten mir weniger schlaflose Nächte als hunderttausend Arbeitslose.“
Noch heute wird Kreisky vorgeworfen, eine sogenannte „Schuldenpolitik auf Kosten nachfolgender Generationen“ betrieben zu haben. Tatsächlich zeigt die Grafik der Statistik Austria hier im Bild dass die öffentliche Verschuldung des Staates in Prozent des Bruttoinlandsprodukts – also des gesamt erwirtschafteten Wohlstands – zum Ende der Alleinregierung Kreiskys 1983 etwa 36% betrug. Heute – nach 33 Jahren rechtskonservativer Mehrheiten im Parlament, und darauf kommt es schlussendlich an – beträgt der Anteil der Verschuldung am Bruttoinlandsprodukt 86,2%.
Selbst mit diesem Wert liegen wir innerhalb der europäischen Union und der OECD Länder sehr gut. Ein verträgliches Maß an Verschuldung – in den neoliberalen USA liegt sie im Übrigen 2015 bei 104,85 % – ist selbstverständlich rechtfertigbar und verständlich, nicht zuletzt im Hinblick auf die geschaffenen Vermögenswerte und Investitionen – insbesondere in Infrastruktur – der Zukunft.
Und die Entwicklung der Arbeitslosenquote gibt der aktiven Beschäftigungspolitik der Regierung Kreisky völlig Recht. Kreisky übernahm eine Arbeitslosenquote von 2,4%, die in den Anfangsjahren stetig sank. Selbst in den Krisenjahren 1975 bis 1981 stieg die Arbeitslosenrate in Österreich lediglich von 1,5% auf 2,2%. Es herrschte de facto Vollbeschäftigung, ein Wort, das viele junge Menschen in unseren nunmehr globalen Wirtschaftssystemen gar nicht mehr kennen. Dem gegenüber stieg die Quote der Arbeitslosen in den europäischen OECD-Staaten von 4,9 auf 8,2%.
Heute haben wir – allerdings bei einer wesentlich höheren Beschäftigungsquote, weil erfreulicherweise mehr Frauen in den Arbeitsmarkt drängen – je nach Zählart 400 bis 480.000 Arbeitslose und eine Quote von 9,1%. Von der Vollbeschäftigung der 70er Jahre sind wir damit meilenweit entfernt, auch wenn Österreich derzeit die zweitniedrigste Quote in der EU aufweist.
Hohe Arbeitslosigkeit bedeutet im Übrigen, dass man weniger in Struktur- und Beschäftigungsprogramme investieren kann, sondern das Geld für Unterstützungsleistungen – Arbeitslosengeld, Notstandshilfe, Mindestsicherung – aufwenden muss.
Kritik ist allenfalls insofern angebracht, als auf Grund dieser an sich stimmigen Politik der Regierung Kreisky gerade in der verstaatlichten Industrie wesentliche Strukturanpassungen versäumt wurden. Diese schmerzhaften Prozesse mussten in den 1990er Jahren nachgeholt werden. Der Geist der 70er Jahre lebt aber gerade in diesen Unternehmen – ich denke da etwa an die Stahlbetriebe der Obersteiermark – in einer geradezu vorbildlich-demokratischen Betriebspartnerschaft weiter.
Damit bin ich beim letzten Teil meines Vortrags, nämlich den gesellschaftspolitischen Aspekten der Reformpolitik der 1970er Jahre. Und dabei ist zuerst die sogenannte „kleine“ und „große“ Strafrechtsreform von 1971 und 1975 unter Justizminister Christian Broda anzusprechen.
Brodas Vision: Die gefängsnislose Gesellschaft. Eine Utopie – wir wissen das alle –, aber eine schöne und wert, alles daran zu setzen, sie weitgehend zu verwirklichen.
Schon in der Ersten Republik hatte man versucht, das Strafrecht an die Erfordernisse eines demokratischen aufgeklärt-humanistischen Staatswesens anzupassen. Die Versuche scheiterten im Wesentlichen, auch einige Vorstöße in der Zweiten Republik blieben weitgehend erfolglos.
Was waren nun die Knackpunkte, an denen sich die konservativen und sozialdemokratischen Geister schieden? Es waren die von den Sozialdemokraten geforderte Straffreistellung der Homosexualität, der Ehestörung und des Ehebruchs sowie eine Reform der Strafbestimmungen über den Schwangerschaftsabbruch.
Nach langem Ringen konnten weite Teile der ÖVP überzeugt werden, dass die Strafbarkeit bei Homosexualität und Ehebruch eingeschränkt werden sollte. Der Beschluss im Nationalrat erfolgte mit 9 Gegenstimmen der Konservativen.
Homosexualität war nunmehr nur noch strafbar, wenn der Sexualpartner minderjährig war. Besonders skurril: Nur für Männer standen sexuelle Handlungen mit Minderjährigen unter Strafe, nicht aber für Frauen. Die paradoxe Begründung: Frauen müssten sich „bei der Körperpflege gegenseitig helfen“, da könne es zu Missverständnissen und ungerechtfertigten Verurteilungen kommen.
Den wahren Grund hingegen hat mein alter Strafrechtsprofessor und Doktorvater Peter Schick einmal treffend so formuliert: „Das steht deshalb nicht unter Strafe, weil Männer Frauen bei sexuellen Handlungen gerne zuschauen.“
Die strafrechtliche Gleichstellung mit den Heterosexuellen erfolgte im Übrigen, erst im Jahr 2002. Mittlerweile ist der Prozess, den die Regierung Kreisky in den 70er Jahren angestoßen hatte – nämlich eine völlige Gleichstellung aller Menschen unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung – nahezu abgeschlossen. Die sogenannte „Verpartnerung“ ist einer „Ehe“ gleichgestellt, im vorigen Jahr 2015 hat der Verfassungsgerichtshof auch das Adoptionsverbot für homosexuelle Paare aufgehoben.
Und wenn ein paar Bürgermeister unseres schönen Landes noch heute der Meinung sind, dass eine Verpartnerung homosexueller Paare nicht mit einer feierlichen Zeremonie im Trausaal, sondern höchstens in einem verstaubten Hinterzimmer stattfinden darf, ist das einfach nur lächerlich. Es erinnert ein bisserl an den sogenannten Kärntner Abwehrkampf.
Wie widerwillig einzelne konservative Abgeordnete im Parlament 1971, die Straffreiheit von Menschen mit gleichgeschlechtlicher sexueller Orientierung zustimmten, zeigt die Wortmeldung des Abgeordneten Walter Hauser. Wörtlich:
[„...] Unsere schon von den biologischen Grundlagen her heterosexuell strukturierte Gesellschaft wird Homosexualität nach wie vor als sozial nicht wünschenswert und als widernatürlich empfinden. Das bleibt das Schicksal des Homosexuellen, dass er anders ist als die normale Mehrheit; dagegen kann kein Gesetz ihm helfen.“
Und dann – fast ein bisserl trotzig - weiter: „[...] Übrigens kann homosexuelles Verhalten [...] nach anderen Bestimmungen zu Strafe führen, etwa als öffentliches Ärgernis oder in bestimmten Bereichen nach Maßgabe bestehender Disziplinarvorschriften [...]“
Auch beim Ehebruch konnte schließlich ein Kompromiss erzielt werden. Bislang wurden Ehebrecher mit Arrest bis zu 6 Monaten bestraft. Die Frau, und nur sie!, allerdings dann strenger – auch das entbehrt nicht einer gewissen Skurrilität –, wenn durch den begangenen Ehebruch über die Rechtmäßigkeit der nachfolgenden Geburt ein Zweifel entstehen konnte. Hier manifestierte sich die uralte Sorge des Patriachats, man könnte womöglich einem illegitimen Erben das Familienvermögen übertragen.
Die 1971 neu geschaffene Regelung entschärfte die Strafbarkeit insofern, als der Täter nur mehr auf Verlangen des verletzten Ehegatten verfolgt wurde. Auch war eine Strafbarkeit ausgeschlossen, wenn die eheliche Gemeinschaft bereits seit einem Jahr aufgehoben oder der Ehebruch verziehen worden war. Eine endgültige Beseitigung des Ehebruchs aus dem Strafrechtskatalog erfolgte erst im Jahr 1997.
Noch kontroversieller wurde die Debatte um die „große Strafrechtsreform“ 1975 geführt. Sie enthielt die Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs bis zum dritten Monat.
Damit Sie wissen, wovon ich spreche: Nach der geltenden Gesetzeslage konnten Mutter und Arzt – vielleicht auch eine sogenannte „Engelmacherin“ – unmittelbar nach dem Eingriff verhaftet und mit schwerem Kerker zwischen einem und 5 Jahren – in besonderen Fällen bis 10 Jahren – bestraft werden. Schwerer Kerker bedeutete im Übrigen bis zu den Reformen der 1970er Jahre hartes Lager, kaum Besuche und Fasten am Tag der Tat.
Die Diskussion über die Abtreibung wurde europaweit, um nicht zu sagen weltweit – in den USA diskutieren sie ja heute noch – geführt. In einzelnen Ländern war sie bereits straflos, etwa seit Anfang der 1970er Jahre in speziellen Abtreibungskliniken in den Niederlanden. Dorthin fuhren auch viele österreichische Frauen, die – aus welchen Gründen auch immer – kein Kind austragen wollten.
In Deutschland outeten sich – initiiert von der Feministin Alice Schwarzer – 374 zum Teil sehr prominente Frauen in der Zeitschrift Stern und behaupteten öffentlich, ihre Schwangerschaft abgebrochen und damit gegen geltendes Recht verstoßen zu haben. Darunter befanden sich etwa Senta Berger oder Romy Schneider. Die österreichischen Sozialdemokratinnen erhöhten mit dem Motto „Mein Bauch gehört mir“ den Druck auf die eigene Partei, den Schwangerschaftsabbruch endlich zu legalisieren.
Bruno Kreisky teilte grundsätzlich die Position der Frauen. Der alte Politfuchs fürchtete aber, seine absolute Mehrheit im Parlament auf Grund der Polarisierung der Menschen in dieser Frage zu verlieren. Kreisky wörtlich: „Ich weiß zwar, wie man Wahlen gewinnt, ich weiß aber auch, wie man sie verliert, und jetzt bei dieser Abtreibungssache schaut es ganz danach aus.“
Zudem hatte Kreisky – und nicht ganz zu Unrecht – die Sorge, dass der Annäherungsprozess zur katholischen Kirche gefährdet sein könnte. Die katholische Kirche hatte nach 1945 eine bemerkenswerte Entwicklung durchlaufen. Sie akzeptierte das Säkularitätsprinzip – nämlich die strikte Trennung von Staat und Religion – und hatte erkannt, dass die Unterstützung der österreichischen Diktatur 1933 bis 1938 und die Mitwirkung an der Verfolgung der demokratischen Arbeiterschaft, ihr weniger genützt als geschadet hatten. Die Aussöhnung zwischen den Katholiken und der Arbeiterschaft gipfelte in der bemerkenswerten Rede von Kardinal Franz König beim Österreichischen Gewerkschaftsbund am 27.02.1973.
Dennoch gab Kreisky den Anliegen der Frauen nach und ging das Risiko ein. Noch 1973 wurde die „große Strafrechtsreform“ mit der Fristenlösung bei der Abtreibung im Nationalrat beschlossen. Der Widerstand der ÖVP und der katholischen Kirche war heftig, der Bundesrat stimmte dagegen. Anfang 1974 fasste der Nationalrat einen Beharrungsbeschluss, das Gesetz konnte mit 1.1.1975 in Kraft treten.
Den Widerstand gegen das Gesetz hatte im Übrigen Karl Schleinzer angeführt, der Kanzlerkandidat der ÖVP, der kurz vor der Wahl 1975 tragisch bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommen sollte. Wörtlich im Nationalrat 1973: „Sie [scheinen] entschlossen zu sein, mit der knappen Mehrheit von Mandaten dieses Gesetz zu beschließen; mit einer Mehrheit, von der wir nicht die Überzeugung haben, dass sie diese heute auch in der österreichischen Bevölkerung noch besitzen. Sie sind im Begriffe, mit ihrer Entscheidung einen Großteil der Österreicher zu brüskieren, und der Herr Bundeskanzler steht neuerlich vor einem Scherbenhaufen seiner Politik.“
Die Prophezeiung Schleinzers ist bekanntlich nicht eingetreten, Kreisky gewann auch die folgende Wahl 1975. Vielleicht ein Hinweis an unsere heutigen Politikerinnen und Politiker, nicht immer auf Stimmungen in der Bevölkerung zu schielen, sondern das zu tun, was man für richtig hält.
Und schließlich ist die umfassende Familienrechtsreform an der Regierung Kreisky kurz zu erläutern. Sie erfolgte in Teilschritten zwischen 1970 und 1978 und umfasste die Neufassung des Ehe- und Kindschaftsrechts. Rechts- und ideologiepolitische Kontroversen waren vorprogrammiert.
Die Frau wurde endlich in allen Punkten dem Mann gleichgestellt, die männliche Dominanz in den Familien in Form des „Haushaltsvorstands“ wurde abgeschafft. Der Mann konnte auch nicht mehr allein über den Wohnsitz und die Bildung der Kinder entscheiden. Bis 1975 war es zum Beispiel dem Ehemann möglich, das Arbeitsverhältnis seiner Frau einfach aufzukündigen, wenn er mit ihrer Erwerbstätigkeit nicht mehr einverstanden war. 1970 erfolgte auch die grundsätzliche Gleichstellung von ehelichen und unehelichen Kindern, wenn auch bis heute kleine Unterschiede bestehen.
Ebenfalls stark ideologisch aufgeladen war die Diskussion um das neue Ehescheidungsrecht sowie – auch in den weiteren Jahrzehnten – der Umgang unter den Geschlechtern an sich. Es dauerte bis 1989, bis die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt wurde. Legendär der Widerstand eines konservativen Politikers gegen die längst fällige Gesetzesänderung, der gewettert hatte, „der Staatsanwalt habe im Ehebett nichts verloren!“.
Als im Übrigen vor einem Jahr die Strafbarkeit von Handlungen gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung verschärft werden sollte, sprachen sich vor allem Abgeordnete von FPÖ und Team Stronach vehement dagegen aus. Ebenfalls legendär der Ausspruch des Arztes Markus Franz – Team Stronach, dann ÖVP, dann dort wieder ausgeschlossen – er sei dagegen, weil er „beim Po-Grapschen seine Frau kennengelernt habe.“ Denn: „Man müsse ja wissen, ob der Popsch hält, was der Blick verspricht.“
Die Bildungspolitik der Regierung Kreisky – verbunden insbesondere mit dem Namen Hertha Firnberg brauche ich hier nicht anzusprechen, dies wird sehr ausführlich Herr Professor Andreas Schnider tun. Nur ein paar Worte dazu: Zwar gelang es auf Grund der nötigen Zweidrittel-Mehrheit nicht, die gemeinsame Schule bis 14 Jahre durchzusetzen und damit die bis heute bestehende und sozial so ungerechte frühzeitige Selektion der Kinder zu vermeiden.
Doch konnten mit der Einführung der kostenlosen Schulbücher, der freien Schulfahrten, dem Ausbau der Schulbeihilfen, der Forcierung von Schulneubauten und nicht zuletzt dem freien Zugang zu den Universitäten große Erfolge erzielt werden.
Ich persönlich bin diesen Reformen mit großer Dankbarkeit verpflichtet. Meine Mutter war Hausbesorgerin, mein Vater ein mittlerer Angestellter. Meine zwei Geschwister und ich hätten unter anderen Rahmenbedingungen wohl nicht studieren können.
Der scheidende Bundespräsident Heinz Fischer resümierte über die Regierung Kreisky: „Das Österreich des Jahres 1983 war moderner, weltoffener, sozialer, wohlhabender und pluralistischer als das Österreich des Jahres 1970, sodass man sagen kann: Die Kreisky-Jahre haben diesem Land gut getan.“
Dem, um zum Schluss zu kommen, meine Damen und Herren, ist wenig hinzuzufügen, auch wenn Fischer sich damit auch ein wenig selbst gelobt hat, war er doch seit 1975 Kreiskys Klubobmann im Parlament.
Ich darf noch einmal Ralf Dahrendorf zitieren, der 1983 meinte: „Heute sind wir alle Sozialdemokraten.“Damit habe die Bewegung – ich habe eingangs schon Dahrendorfs Meinung dargelegt - ihre Aufgabe eben erfüllt.
Es wäre schön, wenn es so wäre, aber ich befürchte, dass die sozialen – gerade auch die durch die Reformpolitik der 1970er Jahre errungenen – Standards im Lichte einer immer radikaler werdenden neoliberalen Politik mehr und mehr gefährdet sind. Der Neoliberalismus propagierte wirtschaftswissenschaftliche Ideen der 1930er Jahre, die man eben erst überwunden glaubte.
Die Vorstellung des sogenannten „trickle down“ wurde geradezu zum religiösen Credo. Demnach könne man ohne weiteres an der ökonomischen Spitze unermesslichen Reichtum zulassen, würde dieser doch von selbst nach unten sickern und auch die ärmsten Bevölkerungsschichten erreichen.
Diese krause Idee ist natürlich völlig gescheitert. Es „trickelt“ – um etwas salopp zu formulieren – wenig bis nichts. Papst Franziskus hat das „trickle-down-Prinzip“ daher in seinem apostolischen Schreiben „Evangelii Gaudium“ unlängst scharf kritisiert. Er wurde daraufhin in den – nicht nur neoliberalen – Medien als „Klassenkämpfer“ und „Sozialrevolutionär“ beschimpft, was uns von den Arbeitnehmerinteressenvertretungen schon ein wenig amüsiert, weil üblicher Weise wir mit diesen Attributen bedacht werden.
Willkommen also im Club, lieber Franziskus! Was ist das Resultat dieser zweifelhaften Politik?
Wir sind mit zunehmender Armut konfrontiert, insbesondere von Kindern, der nicht mehr, sondern noch weniger staatliche Fürsorge entgegengesetzt werden soll.
Die Reformpolitiken für mehr Emanzipation und sozialen Ausgleich scheinen einem Stein zu ähneln, der in die Luft geworfen wurde. Er stieg auf, hing dann einen kurzen Moment scheinbar am Himmel und fällt nun bereits merklich auf die Erde zurück, wobei sich die Geschwindigkeit beschleunigt.
Wir müssen, meine Damen und Herren, aus diesem Stein wieder einen Vogel machen, um unseren Sozial- und Wohlfahrtsstaat zu erhalten und – ich weiß schon, das ist derzeit ein frommer Wunsch – noch zu verbessern: Im Sinne von mehr Demokratie und wieder mehr sozialer Gerechtigkeit. Uns als unabhängige, aber nicht unpolitische Arbeitnehmervertretung ist es nicht so wichtig, welche Partei, welche politische Bewegung unsere Anliegen ernst nimmt und umsetzt. Hauptsache der Vogel fliegt.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.