Das Ferrarirote biegt schwungvoll ab, von der Radstraße, die von Lienz nach Spital führt. Der Trainer schwankt gefährlich. Bei Lendorf, rechts von der Straße, etwas versteckt, liegt die Rotte St. Peter im Holz.
Was, bitteschön, ist eine Rotte? fragt das Ferrarirote, und lugt, misstrauisch, um die Ecke. Räuber vielleicht, da irgendwo hinter den Himbeerstauden? Es fühlt sich gefährdet, das Ferrariote, mit seinen hochwertigen Gängen und seinen hochwertigen Scheibenbremsen und seinem hochwertigen Selbstwert. Von seinen geschwindigkeitsfördernden hochwertigen Schwungelementen im Carbonrahmen ganz zu schweigen. Wenn man sich selbst, und dem Trainer dazu, das Allerwertvollste ist, weit und breit, lebt man unsicher.
Eine Rotte ist ein kleiner Weiler, eine Siedlung mit ein paar Häusern. Aber, vor eineinhalb Jahrtausenden, hat sich´s hier abgespielt, kann ich dir versichern, sagt der Trainer. Da stand hier das römische Municipium Teurnia. Gebaut auf den Fundamenten einer keltischen Vorgängersiedlung war es zur Hauptstadt der römischen Provinz Binnennoricum geworden. Auf dem Holzer Berg, hoch über der Drau, abfallend in die Lendorfer Furche, war die Stadt gut geschützt.
Und bereits ab dem vierten Jahrhundert war Teurnia auch Sitz eines Bischofs. Der antike Dom gibt im Grundriss bemerkenswerte Aufschlüsse, wie das frühe Christentum sich ein Gotteshaus vorgestellt hat. Gleich daneben eine weitere Kirche mit einem sehr gut erhaltenen Bodenmosaik. Als Stifter ist der Statthalter Ursus, der Bär, mit seiner Frau Ursina, vielleicht gar seine Kuschelkratzebärin erwähnt. Echt bärig, jedenfalls.
Die „antiken frühchristlichen Symbole sind ein Gesamtwerk mit nahezu einmaliger Wertigkeit“, wie des Trainers schlaues Büchel anerkennend vermerkt. Ja, das Christentum in seinem Ursprung, sinniert der Trainer, das hat schon was.
Jetzt packen ihn wieder seine scheinheilig transzendenten fünf Minuten, den angekränkelten Atheisten, schüttelt das Ferrarirote den Lenker.
Aber der Trainer, unbeirrt im Loben des Unsäglichen, setzt fort: Die Aufwertung der Frau als eigenständiges, denkfähiges und unmittelbar dem Heil zugängliches Wesen, das war schon ein bemerkenswerter emanzipatorischer Schub.
Zuvor hatten allenfalls Urgöttinnen selbstständige Gestaltungsrechte: die römische Minerva oder die keltische Noreia. Oder, wenn beide Kulturen, zusammenflossen wie hier in der romanisierten Keltensiedlungen Teurnia oder im Leibnitzerfeld auf dem Frauenberg über dem antiken Virunum, recht friedlich im Übrigen: Isis Noreia. Eine Göttin als transkulturelle Kompromisslösung.
Und: Liebe deinen Nächsten, auch wenn der dir gar nicht so nahesteht, vielleicht überhaupt völlig fremd ist, einen völlig Unbekannten, der gerade aus Sturm und Wind in deine Hütte schneit, aus dem nächsten Graben, der angrenzenden Provinz oder aus Afghanistan, und was zu essen will, oder zu deiner Frau ins warme Bett, ein wenig kuscheln nur. Den Nächsten einfach zu lieben einfach so, ohne Vor- und Nachbedingungen, das war schon recht revolutionär.
Und enorm irritierend, in der anbrechenden römischen Kaiserzeit, in der Regentschaft des ersten wahren Caesars, des unfehlbaren Augustus, als die Tugenden der Republik sich aufzulösen begannen. Und nach und nach, in den letzten viereinhalb Jahrhunderten des römischen Reichs, die einzelnen gewaltexzessiven Warlords mit ihren Privatlegionen ihre eigenen Süppchen gekocht haben.
Denn die eroberten Territorien mussten in aller Regel erst, und dann immer wieder, „befriedet“ werden. Nicht jeder mag sich, wenn er halt schon kultiviert werden soll, auch noch recht heftig auspressen lassen.
An die zweitausend Kreuze hat der Feldherr Publius Quinctilius Varus im aufsässigen Judäa aufrichten lassen müssen, und an die zweitausend Kulturverweigerer, und zwar nicht bloß behauptet gottgleiche Wanderprediger, mit einem beachtlichen Hang zum Suizid, daran anschlagen müssen, bis die Provinz endlich wieder einmal a bisserl a Ruh gab.
Sechzig weitere Jahre Pax Romana, und das bei der bekannt kritikfreudigen jüdischen Intelligenzija, das kann man als Befriedungserfolg schon durchgehen lassen! Erst dann hat Rom den unangepassten Juden ihren Tempel in Jerusalem und ihre letzte Trutzburg Masada wegen Aussichtslosigkeit des guten Zuredens endgültig zerstören müssen.
Was haben uns die Römer gebracht? In Judäa und anderswo? Die moderne Wassersleitung, selbstredend. Und Thermen an den Heiligtümern der keltischen Wassergötter, die freilich auch, da kuren wir oft heute noch gerne, am liebsten auf Kosten der Gesundheitskasse. Vor allem aber: den totalen Frieden!
Blickt das Auge, an Teurnia, das vierhundert Jahre später seine Hochblüte erleben sollte, vorbei nach Nordwesten, kommt man zum schönen Rhein. Dort, allerdings, ist der Kreuzeszug des Varus gescheitert.
Da hat er nur wenige renitente Kulturverweigerer ans Kreuz schlagen dürfen, der Publius Quinctilius, dann haben ihn die fünfzehn, sechzehn germanischen Stämme zwischen Rhein und Oder überraschend schmerzhaft gestoppt. Halbwilde, quasi, die sich nie einigen haben können, auf einen königlichen Kaiser, vom Format eines preußischen Hohenzollern vorzugsweise, oder ein Reich gar, ein ewig teutsches heimaterdenes, von der Etsch bis an die Oder.
Aber irgendwie mussten sie sich dann doch geeinigt haben, innerdeutscher Minimalkompromiss! unter Arminius, dem autochthon germanischen Kommandanten, allerdings römischer Hilfstruppen.
Der Arminius, in die deutschen Heldensagen viel geschmeidiger eingegangen als Hermann der Cherusker, der all seine aufwendige römische Kultivierung und Sozialisierung abgestreift hat wie eine lästige welsche Fliege, der treulose Überläufer und Verräter, hat es dem ehrgeizigen Kulturattaché aus dem präpotenten Süden aber gegeben! Und im Teutoburger Wald den dekadenten kreuzesaffinen Angeber, beschämt ob seines Misserfolgs, sich entleiben hat lassen. Und dessen Truppen fast gänzlich massakrieren.
Varus, Varus, gib mir meine Legionen wieder, soll der, bereits greise Kaiser Augustus im fernen Rom geschluchzt haben. Und seinen gekrönten Kopf heftig gegen das Tor seines Palastes geschlagen haben, angrennt gar sein, gegen das ungewohnt widrige Schicksal.
Weniger, so ist zu vermuten, mag den göttlichen Caesar das Hinscheiden seiner gemetzelten römischen Mitbürger, ungünstig gekleidet in wenig sumpftauglicher Rüstung, in die schiere Verzweiflung gestürzt haben, als wohl eher die schmerzhafte Kränkung seines lorbeerbekränzten göttlichen Machtanspruchs.
Und, freilich, hier wurde auch leichtfertig eine Bildungschance vertan. Ein selbstloses Angebot der Hochkultur, nahezu zum Selbstkostenpreis allen barbarischen Ignoranten dieser Welt postlagernd erlegt: „Von hier haben wir den anderen die Kultur gebracht!“ hat Benito Mussolini, ein wenig mehr als eintausendneunhundert Jahre später, auf sein faschistisches Siegerdenkmal in Bozen schreiben lassen. Damit auch die ungebildetsten Südtiroler Bergkeuschler wissen mögen, wo Gott wohnt.
Ja, ja die Kultur, sagt jetzt der Trainer versonnen, die Kultur weckt doch das Allerschönste im Menschen. Die Kultur ist wohl das einzige, das den Menschen, in seinem wahren Menschwerden, noch erbauen und vorwärtsbringen kann, in dieser schnöden herzlosen Welt.
Da wirst du gewiss recht haben, erwidert das Ferrarirote sanft. Denn auch das Ferrariorte zehrt vom großen Erbe des großen Rom, wenn nicht gar des noch größeren Monza. Denn auch in seinem Carbonrahmen fließt römisches Blut, wie in uns allen, wenn auch viel ferrariröter.
Jetzt allerdings, lieber Trainer, lässt das Ferrarirote, pädagogisch exzellent disponiert, wie zufällig fallen, wär wieder etwas Sportkultur gefragt. Also weitergefahren, glücklicher Kulturbeflissener, göttlicher Trainer! Oder muss man dich gar zu deinem Glücke zwingen? Dann freilich merke: Bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.