Jetzt ist er doch ins Keuchen gekommen, und zwar recht hefig, der Trainer. Hat sein Herzerl höherschlagen müssen, da herauf, den nicht hohen, aber steilen Burgberg aus dem Straßenmarkt von St. Georgen an der Stiefing, die letzte Kurve vor dem Finish.
Ein paar Bier weniger, ist das Ferrarirote heute wieder mal besonders unerträglich gut gelaunt, und du könntest mir, mein lieber Trainer, eine würdigere Übersetzung gönnen. Eine, die ich mir, bei meiner Klasse, auch verdiene. Vorne das mittlere Ritzel, hinten das dritte von rechts? Echt jetzt? Ist doch für Luschen!
Oben lehnt das freche Ding dann, wie üblich, lässig und provokant entspannt an der Kirche des Drachentöters. Während der Trainer sich, noch immer recht echauffiert, die paar feuchten helmzerdrückten Haare aus der Stirn ordnet. Wirst auch nicht jünger, junger Mann, ist das Ferrarirote jetzt noch unerträglicher gut gelaunt. Mach dir nix draus. Im milden Septembermorgen klingt das allerbeste Mannesalter still und milde ab. Sagt man. Und an dir sieht man´s exemplarisch. Aber immerhin, deine notorische Eitelkeit wird dir treu bleiben, lieber Trainer. Immer auf Augenhöhe mit deinem aktuellen Derangement.
Dir Kirche ist architektonisch nicht uninteressant. Sie, die in den Wirrnissen der Zeit, vor allem der Ungarneinfall 1481 hat ihr zugesetzt, immer wieder erneuert werden musste, wurde schließlich am Beginn des 19. Jahrhunderts nahezu gänzlich abgetragen. Der damalige Pfarrer, sagt dem Trainer sein gescheites Buch, habe das so beschlossen. Warum, sagt das gescheite Buch nicht. Es bleibt also ein Fragezeichen. Und mit Fragezeichen kann der Trainer, weiß das Ferrarirote, nicht so wirklich gut umgehen. Wird mal wieder eine kurze Nacht.
Jedenfalls ist die Kirche außen recht neu. Historistisch. Auch innen hat man die barocke Einrichtung gegen Neorenaissance getauscht. Geblieben ist, als vermutlich mittelalterlich-gotischer Rest, der Unterbau. Liest der Trainer, wiederum in seinem Buch, sieht aber nichts. Nicht überall, behält das Ferrarirote mittleidig für sich, ist er von Fach. Auch wenn er´s sooo gern wollte. Drollig.
Das Schloss St. Georgen ist unmittelbar an die Kirche gebaut. Die Schlossherren sorgten für einen bequemen Zugang zur Messe, erhaben präsentierten sie sich ihrem Volk auf einer seitlichen Empore. Noblesse oblige.
Recht ansehnlich steht er noch da, der über Jahrhunderte entstandene Baukomplex, auf einer abfallenden Terrasse über dem Leibnitzer Feld. Der Ansitz wechselte seine Herren. Im 12. Jahrhundert nennt die Chronik die Grafen von Plain, dann übernahm der Bischof von Seckau. Es folgten die Herren von Glojach, die Freiherren von Egkh und Hungersbach. Nun ist das Schloss adaptiert für einen kommerziellen Therapie- und Seminarbetrieb. Man kann sich hier selbst finden, aber auch den anderen. Die Lomi-Massagen auf dem Weg zur Mitte, die eigene und die des anderen, sind hoch gelobt.
Der Schlossherr führt den Trainer kundig durch die Gemäuer, er weiß, wenig überraschend, unendlich viel. Der Trainer, auch wenig überraschend, die Todsünde der Eitelkeit haben wir ja, grinst das Ferrarirote, heute schon mal erwähnt, weiß auch immer was. Und, vor allem: besser.
Die ältesten Teile stammen noch aus dem Mittelalter, sagen Schlossherr und gescheites Buch unisono. 15. Jahrhundert. So viel Harmonie beruhigt den Trainer. Bemerkenswert ist der Treppenaufgang in der Nordwestecke im Stile des Domenico dell´Allio. Der hat auch das Landhaus in Graz maßgeblich gestaltet. Große Schule, einer der mächtigsten profanen Renaissancebauten nördlich der Alpen geht auf dieses Konto.
Und da drüben, auf dem Johanneshügel, liegt der Ernst. Sagt der kundige Schlossherrenfamilienspross. Der Wer? Der Paul Ernst, wiederholt der gute Mann, die Stimme etwas belegt. Stolz und Ehrfurcht für den nun eher feinkörnig steinernen Gast haben ein knappes Jahrhundert überdauert. Der hat hier gelebt, der Paul Ernst, und geschrieben. Von 1925 bis 1933. Und gebaut. Hat die ihm ins Auge springenden Mängel aus der Gotik, der Renaissance und dem Barock ein wenig korrigieren müssen. Damals hat man eben nicht viel Vernünftiges zustande gebracht. Hat er halt gemeint, der Ernst.
Der Trainer will auf den Hügel. Das Ferrarirote allerdings lässt sich diesmal nicht einfach wegparken. Abschieben, das wär ja noch das Schönere, lieber Trainer, jetzt wird geschoben. Nämlich die kleine Steintreppe hinauf. Denn auch das Ferrarirote weiß: Was heutzutage zählt, in dieser schnöden funkelnagelneuen Welt, ist allein das Bild. Und jedes gepostete Foto, wo man selbst nicht drauf ist, ist ein Minus. Eine Kränkung der Persönlichkeit. Und der Menschheit sowieso.
Das Ferrarirote, und auch der Trainer, stehen vor der beeindruckenden Grabanlage, Lenker und Haupt gesenkt. Links ein großmächtiger, verträumter Nepomuk. Den hat man ersäuft, in der Moldau, seinerzeit. Weil er, so die Legende, das Beichtgeheimnis bewahrt hat. Der Böhmerkönig Wenzel war halt wissbegierig. Ein bisserl investigativ, wie jeder bessere Journalist heute. Der wollte vom Nepomuk halt nur ein paar Tipps, was seine Frau so treibt. Wenn er grad nicht zu Hause ist. Im Krieg. Oder beim Gelage.
Das Ferrarirote stößt den Trainer an. Ein kleiner Wink, mit dem Zaunpfahl. Das braucht diese notorische Tratschen von Zeit zu Zeit. Einen sanften Hinweis, dass man im Leben, und vor allem aus dem Leben, nicht alles erzählen muss. Außer seinem Priester, da kann man vertrauen. Weil der sagt´s gewiss nicht weiter.
Rechts neben der Grabplatte steht eine zweite stattliche Figur. Ein Engel. Der wird schon da gewesen sein, wohl aus dem 18. Jahrhundert, schätzt der Trainer. Man muss ja nicht alles in den Müll entsorgen, wenn man sein Schloss umbaut und sein Grab aufbaut. Recycling ist unsere Zukunft! Integration. Der Trainer blickt auf die, wohl nachgravierten, Lettern der monumentalen Grabplatte. Ein Statement, eine Verkündigung. Für alle Ewigkeit. Hier ruhen Paul Ernst und Else Ernst. Die zwei, so die frohe Botschaft, haben auch einmal gelebt.
Das Ferrarirote schaut verstohlen zum Trainer auf. Der wirkt irgendwie beglückt. Als hätte er gerade einen lange verschollenen Freund, die schicke Ehefrau mit schickem Hut am Arm, auf der so attraktiv bevölkerten Promenade des Jesolo Lido angetroffen. Wenn er die beiden jetzt auch noch begrüßt, feixt das Ferrariote hämisch, hallo, hallo, habe die Ehre, Familie Ernst! wird ihm wohl, dem freudig überraschten Trainer, wenn überhaupt, nur staubtrocken gedankt werden.
Der Paul Ernst, sagt der Trainer, nach Minuten des Schweigens. Der Paul Ernst, da schau her. Hätt nicht geglaubt, dass der da liegt. Wie kommt denn der da her? Den Ernst, den kenn ich. Da hab ich schon was gelesen. Der Trainer, weiß das Ferrarirote aus leidvoller Erfahrung, hat von allen schon was gelesen. Und wenn nicht, dann auch. Man ist schließlich Bildungsbürger.
Ein paar grundlegende Arbeiten zur sozialen Lage der Arbeiter hat der verfasst, der Ernst, fällt dem Trainer anerkennend ein. Brav, brav. Der Arbeiterbewegung verbunden, das ist, auch das weiß das Ferrarirote, immer ein Sonderplusbonus. Im trainerlichen bohemien-bourgeoisen Klassenbuch. Aber dann, erinnert sich der Trainer nachtragend, ist er, der Ernst, weil die marxistische Revolution ausgeblieben war, enttäuscht von diesem erfolglosen Pack, zum Konservativen mutiert. Da braucht man dann auch kein schlechtes Gewissen haben, wenn man den Idealen der Jugend adé sagt. Ja wenn das Lumpenproletariat nicht einmal eine halbwegs anständige Revolution hinkriegt?!
Dem Publikum seiner Zeit hat ohnehin die ernstsche Belletristik besser gefallen. Seine Prosa. Deutsche Geschichten, hat er die genannt. Bei so einem Titel kann nicht allzu viel schiefgehen.
Und seine Frau, die Else? Auch da fallen dem Trainer ein paar Fetzen aus seinem Hirnzettelkasten in den offenbarungsfreudigen Mund. Schöne, selbstillustrierte Märchen hat sie geschaffen, die Frau Ernst. Eine begabte Übersetzerin. Victor Hugo? Und, vielleicht, auch ein paar bemerkenswerte Übertragungen aus dem Altgriechischen?
Und ihr Vater war doch der, war doch der …? Der Trainer blickt das Ferrarirote hilfesuchend an und schnippt mit den Fingern die leere, unschuldige Luft. Man muss ihm helfen, dem armen alten Mann, denkt das Ferrarirote. Ist schließlich auch nur ein Mensch, wenn auch ohne Stahl und Gummi. Da ist das Ferrarirote solidarisch und loyal, Ehrensache, ganz anders als der Trainer im Übrigen, der selbstsüchtige Opportunist. Und das großzügige Ferrarirote denkt jetzt ganz ganz fest an die hochehrwürdige norddeutsche Gelehrten- und Senatorenfamilie Apelt.
Der Trainer wiederum schaut, wie hypnotisiert, auf das Ferrarirote. In weiten Fernen ist der jetzt! Und schauen kann er ohnehin besser als denken. Und dann: ein grellroter Blitz! Göttergeistesfunke. Apelt! Apelt, heißt der. Otto Apelt. Altphilologe. Triumph und Freude leuchten im Gesicht des Trainers. Was für ein fabelhaftes Gedächtnis er doch hat, und noch gar nicht alt! Und funktionieren tut´s obendrein.
Und wenn das so ist, wenn der Paul Ernst nun schon einmal da liegt, unverhofft an der Stiefing, mit seiner Else, lenkt der Trainer produktiv seine Euphorie zu seiner bekannt hyperaktiven Schaffenskraft, werden wir gleich einmal einen literarisch-historisch-politisch-kulturkritischen, und Bindestrich und Bindestrich, Beitrag über den Paul Ernst, vielleicht auch seine Else, schreiben. Zu Ehren der hohen Wissenschaft. Und auch den meinen. Selbstredend.
Die Else jedenfalls darf man nicht außen vor lassen. Das ist ja heutzutage nicht unheikel, weiß der Trainer, weiß das Ferrarirote. Da könnt’ ja eine nachfragen, wenn die Else nicht gendergerecht drinnen steht, in so einem, politisch korrekten, universalwissenschaftlichen Essay.
Also: der Paul Ernst und seine Zeit, der Paul Ernst und sein Werk, der Paul Ernst und sein Schloss, der Paul Ernst im Wirtshaus von St. Georgen, am Ufer der Stiefing… Und dann: die Else, geborene Apelt, verwitwete von Schorn, gestorbene Ernst und ihre Zeit, die Else Ernst und ihr Werk, die Else Ernst und ihr Schloss, die Else Ernst, mit Köchin und Frau des Bürgermeisters, bei der jährlichen Kräuterweihe…
Na bravo, motzt das Ferrarirote. Da schreibt dann der Trainer wieder, völlig verloren in anderen Welten, unansprechbar und in Selbstgesprächen verfangen, zu Tage, zur Nacht, irgendwas zusammen, was eh keiner braucht. Geschweige denn liest.
Und was ist mit mir? Ich komm, Turngerät für die jungen Siebenschläfer, wochenlang nicht mehr aus meinem Stall.