I.
Noch vor Tarvis, wo die Gailitz, jung, aber schon kräftig, hinunter ins Gailtal rauscht, beginnt das Kanaltal. Hier verläuft die Ciclovia Alpe Adria, der internationale Radweg von Salzburg durch Kärnten und Friaul bis ans Meer nach Grado.
Die unscheinbare Wasserscheide des Saifnitzpasses, Sella di Camporosso, gleich nach der Ortstafel von Tarvis behutsam ansteigend, macht nicht einmal dem Trainer besondere Mühe. Stellt das Ferrarirote, ebenso nachsichtig wie lakonisch fest.
Hervorragend ausgebaut ist die Ciclovia bereits ab der Grenze bei Boscoverde und nun hinab an Fella und Tagliamento zur Adria. Da können sich die Salzburger und Kärntner Regionalpartner, freilich auch zunehmend radfreundlich, doch noch eine kleine Scheibe abschneiden.
Auf langen Hängebrücken, nirostabeschlagen, rattert das Ferrarirote lustig dahin. Die alten, und zuweilen auch neu angelegten, Tunnel sind mit Bewegungsmeldern ausgestattet. Nicht immer, aber doch immer wieder, geht selbst dem Trainer ein Licht auf.
Und das Ferrarirote? Das muss sich, in diesen ultramodernen Tunnel, gar nicht so sehr fürchten. Vor den bösen Geistern und sonstigem Spuk. Vielleicht aber doch vor einem feinstoffigen, weil längst verblichenen, aus dem renitenten Süden in den hohen Norden verschlagenen Exemplar der legendären Carbonari?
Diese schwarzen Köhlergesichter sind bereits am Beginn der europäischen nationalistischen Hysterie, gleich nach den napoleonischen Kriegen, angetreten, Italien zu einigen. Was das genau sein soll, dieses Italien, hat allerdings damals noch keiner so recht gewusst. Aber auferstehen muss es, was und wie auch immer, im Risorgimento! Eine Wiedergeburt. Und wenn es nur irgendwie geht, zumindest so mächtig wie einst das römische Reich.
Zuerst sollten alle Territorialfürsten auf der apeninnischen Halbinsel verjagt werden. Wenn möglich, wir sind ja alle nur Menschen, kräfte- und blutschonend bloß mit dem nassen Fetzen. Wenn nicht, wenn Güte nicht greift, mit Karabiner, Dreschflegel und Pulverfass.
Die Parole der Köhler? Abgeschrieben vom Spotttäfelchen am Kreuz des gemarterten friedfertigen Gottes: INRI. Justum necare reges Italiae. Es ist gerecht, Italiens Könige zu töten.
Später wurde man moderater und differenzierter, wie immer, wenn Feindbilder, situationselastisch, an die aktuelle Tagespolitik anzupassen sind. In letzter Konsequenz beschränkte sich der nationale Eifer auf den Kampf gegen die landfremde habsburgisch-österreichische Knechtschaft.
Das Risorgimento hatte bekanntlich beachtlichen Erfolg. Heute reicht das wiedergeborene italienische Reich bis zum Brenner und den Karnischen Alpen. Und der italische Hurrapatriotismus darf sich, national triumphierend, in einem eigens dafür eingerichteten Museum in Udine erschöpfend feiern.
Die Radtunnelwand biegt sich in eine Kurve, das Ferrarirote lugt vorsichtig um die Ecke. Vielleicht wacht da gar noch ein versprengter Carbonaro über eine Grenze, die 1919 bei Tarvis, so wie auch im oberen Drautal, gegen jede geographische und sprachlich-kulturelle Vernunft, über die Wasserscheide zwischen Schwarzem und Adriatischem Meer gezogen wurde. Oder, wie der Hurrapatriotismus, diesmal auf der anderen Seite der Grenzlinie, in die Kärntner Landeshymne so feierlich eingravierte: Wo Blut die Grenze schrieb.
Schön, ruft der gutgelaunte Trainer dem Ferrariroten zu, dass das so viel geschmähte Einigungs- und Friedensprojekt der Europäischen Union auch irgendwie Sinn macht. Und die Grenzbalken gehoben und den unseligen Chauvinismus auf beiden Seiten eine, diesmal erfreulicherer, Grenze gesetzt hat.
Eng ist das Kanaltal, entlang der Fella, die Verkehrswege gehen drunter und drüber. Jedes Vehikel kommt zu seinem Recht. Höchste Ingenieurskunst, über eineinhalb Jahrhunderte entwickelt und ambitioniert in die Landschaft eingepasst. Eine Bahn braucht’s, die ergänzte bereits früh die einfachen befestigten Wege, die Wirtschaft und Kulturen über die Alpen verbanden. Dann kam eine breiter angelegte Regionalstraße, später, zusätzlich, eine Schnellstraße. Und schließlich, wieder drunter und drüber, wurde die mächtige Autobahn gebaut.
Und der Fluss selbst? Dieses herrlich grün-türkise Wasser des Fiume Fella, noch immer erfreulich naturbelassen und anarchisch mäandernd in seinen hellweißen Geröllbetten? Irgendwie findet der auch noch seinen Platz, zwischen und unter dem Gewirr der Verkehrswege.
So viele Brücken und Unterführungen, endlos lange Tunnel und Einhausungen sind hier notwendig, um dem Chaos Ordnung zu verschaffen! Der Mensch ist erfinderisch. Ein Zoon technicon. Der bringt selbst Kamele durch ein Nadelöhr. Nach Süden, zu den Orten der Sehnsucht. In die Weinhügel, an das Mittelmeer. Nach Venedig, der altehrwürdigen Serenissima. In die gelehrte Stadt Bologna. Und schließlich, irgendwann, stehen die Kamele in Rom. Wo alle Wege enden. Sich die Wirrnisse und Knoten des Seins glücklich in der Transzendenz lösen. Die der Pilger allerdings seltener, so sagt man.
II.
Kurz nach Carnia murmelt der Tagliamento von Westen in zahlreichen Bächen und Rinnsalen heran. Vom Passo di Maurio, an der Grenze zu Belluno, kommend, zieht er in einem Knie nach Süden. Und nimmt die Fella auf. Jetzt bleibt mehr Platz für die Ciclovia. Vorbildlich, geradezu liebevoll führt der Alpe-Adria Radweg über schmale und ausreichend befestigte Wege durch die welkende Natur. Nur wenige Kilometer, bei Bordano, muss das Ferrarirote auf die starkbefahrene SS13.
Der Trainer schnauft, gelassen passiert das Ferrarirote Venzone. Schließlich hat es aber doch Einsehen und biegt ab. Hinein in die kopfsteinbepflasterten Straßen der prächtigen Stadt Gemona. Der Trainer braucht Rast.
Der berühmte Dom Santa Maria Assunta, Maria Himmelfahrt, ragt vor ihnen auf. Seine frühesten Bauelemente stammen aus dem zwölften und dreizehnten Jahrhundert. Die Obelisken am Portal zeigen, gut erkennbar, lombardische Einflüsse. Dazu über dem Portal eine Königsgalerie. Grazile Säulen, bemerkt der Trainer, sie tragen hübsche Passbögen. Französische Architekturkunst. Ein schönes Beispiel mehr, wie stark Europa im Mittelalter kulturell, und auch politisch, vernetzt war.
Das Tympanon, das Bogenfeld über dem Portal, zeigt das jüngste Gericht. Schön brav sein, mahnt der Trainer das Ferrarirote, und lehnt es zum brav Warten an die Wand. Sonst wirst du, wenn der Herr zurückkehrt, auf die linke Seite sortiert. Zur schlechteren Hand. Dort, wo die brennheißen Höllenteufelschlünde auf dich warten. Gar nicht vorteilhaft, für dein fesches Carbon.
Im Mai 1976 bebte, mit mächtiger Stärke, in Friaul und Julisch-Venetien die Erde. Das Kanaltal und Gemona waren besonders schwer betroffen. Der Campanile aus dem vierzehnten Jahrhundert mit seinen hübschen Anklängen einer beginnenden Renaissance stürzte ein. Ebenso das Seitenschiff des Doms. Mit vereinten europäischen Kräften hat man zuerst die schwerbeschädigte Industrie, dann die Wohnhäuser, und schließlich die demolierten Kulturstätten, wie hier in Gemona den Campanile und den Dom, wieder aufgebaut. Am Burgberg, über dem Palazzo del Comune, im Übrigen ein hervorragendes Beispiel für die venezianisch-lombardische Renaissance um 1500, wird an Schautafeln den knapp eintausend Todesopfern der Region gedacht.
Spenden aus Österreich haben, erklärt der Trainer dem Ferrariorten, ganz erheblich zum Wiederaufbau beigetragen. Diese bemerkenswerte Solidarität mag eineinhalb Jahrzehnte noch im kollektiven Gedächtnis gewirkt haben, als angesichts des Desasters der jugoslawischen Separationskriege die Aktion Nachbar in Not ins Leben gerufen wurde.
Je näher uns das Leid ist, räumlich wie persönlich, räsoniert der Trainer, desto eher sind wir bereit, zu helfen. Das mochte den notleidenden Menschen in entfernteren Regionen wenig Trost sein. Aber immerhin, ein Anfang war getan. Und mittlerweile reicht die österreichische Nachbarschaftshilfe nahezu über alle Kontinente. Bis an die Küsten des Indischen Ozeans. Nach Darfur und nach Syrien, bis Somalia und Haiti.
Und vielleicht, mag ja sein, erinnern wir uns, bei all diesem hochlöblichen globalen Sendungsbewusstsein, auch mal wieder an die elenden Slums der Roma und Sinti? Gleich ein paar Kilometer nach Wien und der Grenze zur Slowakei?