Vortrag am 9.5.2017
Am 30. Jänner 1927 – also vor etwas mehr als 90 Jahren – trifft Josef „Pepi“ Grössing ein Schuss Schrot direkt ins Herz. Er fällt um, ist sofort tot. Josef Grössing, geboren am 12. Februar 1920 ist an diesem denkwürdigen Tag im burgenländischen Schattendorf, der die junge Republik Österreich nachhaltig verändern wird, erst knapp sieben Jahre alt.
Heimito von Doderer, der gefeierte Schriftsteller der Zweiten Republik, setzt dem Buben, dem er den Spitznamen „Krächzi“ gibt, in seinem berühmten Roman „Die Dämonen“ ein literarisches Denkmal. Dort heißt es: „Es war vorigen Sonntag in Schattendorf eineSchießerei zwischen den Sozis und den ‚Frontkämpfern‘. Es ist aus einem Wirtshaus mit Jagdgewehren auf die Roten geschossen worden, die auf der Straße marschiert sind. Mehrere Verwundete, zwei Tote: Krächzi und sein Onkel, dieser Invalide mit dem einen Aug‘. Was der Bub dort zu suchen gehabt hat, weiß kein Mensch...Der Krächzi hat sieben Schrotkörner bekommen, ganz großer, grober Schrot, sein Onkel noch mehr. Beide waren gleich tot. Es waren Schüsse aus nächster Nähe, die Straße ist dort nicht breit. Natürlich ist nicht auf die beiden gezielt worden, sondern auf die Leute vom ‚Republikanischen Schutzbund‘...Geschossen haben der Wirt, Tscharmann heißt der, sein Sohn und der Schwiegersohn.“
Was ist, meine Damen und Herren, der Hintergrund zu dieser menschlichen Tragödie, deren es zahlreiche gab in dieser gewaltgeschwängerten Ersten Republik Österreich? Was hat es auf sich mit „Frontkämpfern“ und einem „Republikanischen Schutzbund“, die Situationen schufen, in denen kleine Kinder nicht mehr sicher sind, auch wenn sie nur völlig unbeteiligt vom Rande der Straße einem Aufmarsch zusehen? Wie überhaupt erging es den Kindern und Jugendlichen, die in ein Zeitalter der Unsicherheit und der unerbittlichen politischen Konfrontation hinein geboren wurden?
Nach dem Zusammenbruch Österreich/Ungarns – zuletzt weniger eine Monarchie als eine Militärdiktatur – standen die maßgeblichen politischen Parteien – Sozialdemokraten, Christlich-Soziale und Deutsch-Nationale – einer wahren Herausforderung gegenüber: Wie geht es weiter? Und nur die Sozialdemokratie hatte ein tragfähiges schlüssiges Konzept, das in kurzen Worten wie folgt lautete:
Hervorzuheben auch die Sozialgesetze bis 1920 unter Ferdinand Hanusch, erste Bollwerke eines Sozial- und Wohlfahrtsstaates, wie er erst in der Zweiten Republik umfassend geschaffen werden sollte: Der Achtstunden-Tag und die 48-Stunden-Woche, das Betriebsrätegesetz das mit der so wichtigen Außenseiterwirkung der Kollektivverträge, eine Arbeitslosenversicherung, der gesetzliche Urlaub, die Abschaffung des Arbeitsbuches, die Regelung der Heimarbeit, die Errichtung der Arbeiterkammer, ein umfassender Mieterschutz – besonders wichtig im Elend der Nachkriegszeit – und – und das soll uns hier besonders interessieren – die Abschaffung der Kinderarbeit und besondere Arbeitnehmer-Schutzbestimmungen für Jugendliche.
Bereits Viktor Adler, der selbstlose Arzt und Gründer der Sozialdemokratie, hat bereits Ende des 19. Jahrhunderts das Elend der Arbeiterinnen und Arbeiter – somit der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung, - die – wörtlich – „wie Sklaven gehalten wurden“ - angeprangert. So beschreibt er etwa die Quartiere der Ziegelschläger in Wien – der sogenannten „Ziegel-Böhm“, die das ganze Elend der arbeitenden Bevölkerung, vor allem aber der Familien und Kinder, manifestierte:
„Für die Ziegelschläger gibt es elende ‚Arbeitshäuser‘. In jedem einzelnen Raum, sogenannten „Zimmer“ dieser Hütten, schlafen je drei, vier bis zehn Familien, Männer, Weiber, Kinder, alle durcheinander, untereinander, übereinander...In einem dieser Schlafsäle, wo fünfzig Menschen schlafen, liegt in einer Ecke ein Ehepaar. Die Frau hat vor zwei Wochen in demselben Raum, in Gegenwart der fünfzig halbnackten, schmutzigen Männer, in diesem stinkenden Dunst entbunden! ...Die Sträflinge in Sibirien sind besser versorgt als diese Leute...“
Die Kinder und Jugendlichen mussten früh dazu verdienen, oft schon mit acht oder neun Jahren, zuerst in Heimarbeit, wo sie sich stundenlang mit einfachen Näharbeiten die Finger zerstachen, dann in den Betrieben als Handlanger, oft bis zu 10, 12 Stunden pro Tag.
1904 berichtet der Sozialreporter Max Winter – der sich wie später Günter Wallraff in die Betriebe einschlich, um unbehelligt recherchieren zu können – von der Kinderarbeit im Schwechater Werk der „Alpinen Montangesellschaft“, der Vorgängerin der heutigen Voest Alpine:
„Die eiserne Fallthüre des Schweißofens hängt an einem längeren Hebel, weshalb eine geringere Kraftanwendung zum Heben der Thüre nothwendig ist. Dieser Umstand glaubt die Herren von der Alpinen schon zu berechtigen, zu dieser Arbeit kaum der Schule entwachsene Jungen zu verwenden, ...ein Missstand, der dringend der Abhilfe bedarf. 14- bis 16-jährige Kinder in der Nähe strahlender Öfen und umgeben von tausenderlei Gefahren zwölf Stunden am Tag schuften zu lassen, ist eine der schlimmsten Ausgeburten des Kapitalismus. Im Hüttenbetrieb haben so jugendliche Arbeiter nichts zu suchen, und sie können dort nichts finden, als frühes Sichthum, frühen Tod. So ein „Thürlbub“ verdiente in einer Woche zu 72 Arbeitsstunden 4 bis 5 Gulden.“ Das sind im heutigen Gegenwert ca. 50 Euro. Also ein Stundenlohn von 70 Cent.
Zu Ende des Ersten Weltkrieges und in den unmittelbaren Nachkriegsjahren hatte sich die Ausbeutung der arbeitenden Bevölkerung, vor allem auch der Kinder und Jugendlichen, nicht verbessert, sondern nur noch verschärft. Eine progressive, Gerechtigkeit schaffende Sozial- und Familienpolitik war somit ein Gebot der Stunde. Und freilich auch eine neue Bildungspolitik: Von April 1919 bis Oktober 1920 wurde der sozialdemokratische Abgeordnete Otto Glöckel zum Unterstaatssekretär für Unterricht – also zum Unterrichtsminister – der Ersten Republik berufen.
Er forderte eine strenge Trennung von Kirche und Schule. In seinem sogenannten „Glöckel-Erlass“ schaffte er die verpflichtende Beteiligung der Schüler am Religionsunterricht sowie das tägliche Schulgebet ab. Um Chancengleichheit zu schaffen, forderte er vehement eine Gesamtschule der 10- bis 14-Jährigen. Eine bildungspolitische Notwendigkeit, die bis heute nicht umgesetzt ist. Glöckels Ziel war es auch, die Demokratisierung der Schule durch organisatorische und inhaltliche Mitbestimmung der Lehrer, Eltern und Schüler und eine Abkehr von der reinen Lernschule mit Frontalunterricht – er nannte sie „Drill-Schule“ – voranzubringen. Klassen und Schulsprecher wurden installiert.
Schon von Anbeginn wurde Glöckel auf Grund seiner Modernisierungsbestrebungen zu einem der größten Feindbilder der reaktionären Kräfte. Die christlich-soziale „Reichspost“ vom 12. April 1919: „Ferner ist zu befürchten, dass doch viele Eltern ihre Kinder aus Fanatismus vergewaltigen und vom Schulgottesdienst abhalten werden; daraus droht für viele arme Kinder ein Verlust der reichen Güter, die eine religiöse Erziehung demKinderherzen bietet...“ Als in den Jahren 1933/34 die Demokratie abgeschafft wurde, haben die Austrofaschisten Glöckels moderne Ansätze sofort wieder aufgehoben.
Die Diskriminierung der Kinder aus der Arbeiterbewegung war in der Zwischenkriegszeiterschreckend: „Ihr rotes Gsindl gehört nicht in die Schule, ihr solltet am Misthaufen aufwachsen“, sagte etwa ein Hauptschullehrer zum Arbeiterkind und späteren Bürgermeister von Steyr Franz Weiss. Immer wieder haben Lehrer den Kindern aus der Arbeiterschicht verdeutlicht, dass sie sie für Menschen zweiter Klasse hielten. Das wurde in der Zweiten Republik wesentlich besser, hielt sich aber in Einzelfällen doch sehr lange. So kann ich mich persönlich an meinen Musiklehrer am Gymnasium in Leoben erinnern, der noch Anfang der 1980er Jahre in der Klasse gewettert hat, dass die Arbeiterkinder das Niveau des Gymnasiums enorm gesenkt hätten.
Die Sozialdemokratie verlor die Wahl 1920 und schied aus der Koalition mit den Christlich-Sozialen aus. Von da an bis zur Errichtung der Diktatur 1933/34 sollte der sogenannte„Bürgerblock“ aus Christlich-Sozialen und Deutsch- Nationalen regieren. Ihr erklärtes Ziel war es, den „Revolutionären Schutt“ – wie sie die demokratische und rechtsstaatliche Verfassung und die so wichtigen sozialen Schutzgesetze zynisch nannten – wieder weg zu räumen.
Der Kulturkampf um Demokratie, Rechtsstaat und soziale Rechte wurde nicht nur in heftigen Debatten im Parlament ausgetragen, sondern auch auf der Straße, wo sich paramilitärische Verbände – Privatarmeen – bekämpften. Schon 1920 wurden auf christlich-sozialer und deutsch- nationaler Seite die ersten Heimwehren gegründet, die von Anbeginn der demokratischen Partizipation der Arbeiter äußerst skeptisch gegenüber standen. Im Gegenzug etablierte sich 1923 auf sozialdemokratischer Seite der Republikanische Schutzbund, der zum Ziel hatte, als Gegenpol zu den Heimwehren die demokratische und rechtsstaatliche Verfassung gegen autoritäre Angriffe zu schützen.
Während die Sozialdemokratie im Bund die Oppositionsrolle einnahm und wenig in die politische Gestaltung eingebunden war, konnte sie im neugeschaffenen Bundesland Wien – wo sie die absolute Mehrheit besaß – ein bemerkenswertes Sozial- und Bildungsprogramm umsetzen, von dem in ganz besonderem Maße die Arbeiterfamilien und ihre Kinder profitierten.
Finanziell abgesichert durch eigene Steuern auf Luxusgüter, den sogenannten Breitner- Steuern, die vor allem die Vermögenden und Wohlhabenden zu tragen hatten, entstanden leistbare Wohnsiedlungen für die notleidende Bevölkerung, die modern ausgestattet waren. So gab es etwa Bad und WC in den Wohnungen, Gemeinschafts-Waschküchen, Grünanlagen, Büchereien und ähnliches. Julius Tandler, der Sozialstadtrat, sorgte dafür, dass jedes neugeborene Kind ein Startpaket mit Nahrung und allen notwendigen hygienischen Artikeln erhielt und etablierte ein umfassendes Gesundheits-Vorsorge- und Wohlfahrtssystem für alle Bevölkerungsteile, vor allem aber für die Kinder aus ärmeren Schichten. Kinderbetreuungseinrichtungen wurden ebenso geschaffen wie Sportplätze und Freibäder.
So erinnert sich der spätere Fotograf Erich Ritenauer daran, dass er aus seinen Schuhen wuchs und seine Mutter kein Geld hatte, neue zu kaufen. Das einzig verfügbare Schuhwerk gehörte dem Onkel, der die Schuhgröße 45 hatte. Um aus diesen Schuhen nicht heraus zu fallen, musste man sie mit Zeitungspapier ausstopfen. In eben diesen Schuhen schleppte sich der kleine Erich zu einer Wohltätigkeitsfeier, die Stadtrat Tandler zu Weihnachten für die armen Kinder der Stadt veranstaltete und wo sie sich endlich wieder einmal sattessen konnten. Eine „Dame der besseren Gesellschaft“ – in diesem Fall die berühmte Alma Mahler-Werfel, eine in den Augen Erich Ritenauers „magische Gestalt mit Diadem, weiß gekleidet und wunderschön“ übergab ihm sein Weihnachtsgeschenk. Und schließlich besorgte man auch Schuhe für den kleinen Erich, die ihm tatsächlich passten.
Das Vorzeigeprojekt des „Roten Wien“, das international größtes Aufsehen und Reputation erfuhr, wurde von den bürgerlichen Parteien – vor allem in deren Zeitungen – als „Geldverschwendung“ und „Gleichmacherei“ abqualifiziert. Bis 1927 standen sich die beiden Lager verfeindet, aber auf „Augenhöhe“ gegenüber, die Ereignisse in Schattendorf und die nachfolgenden Demonstrationen in Wien brachten aber eine Wende zu Lasten der demokratischen Kräfte. Was genau, meine Damen und Herren, war geschehen?
Das Burgenland war erst im Herbst 1921 zu Österreich gekommen und wurde innenpolitisch ruhig geführt. In einer Parteienvereinbarung waren die politischen Kräfte des Landes übereingekommen, keine paramilitärischen Verbände zu errichten, um nicht Ungarn, das seine Besitzansprüche nicht aufgegeben hatte, zu provozieren. Die konservative Seite brach 1926 diese Vereinbarung und gründete auch im Burgenland eine „Frontkämpferorganisation“, also eine Heimwehr.
Ziel war es, im Falle eines rechtsradikalen Putschversuches, den man als Ziel verfolgte, ungarischen Einheiten – wo mit dem Horthy-Regime bereits ein halbfaschistisches System errichtet war – eine Intervention in Österreich zu erleichtern. Im Gegenzug wurde auch im Burgenland ein Republikanischer Schutzbund errichtet, um die demokratischen Verhältnisse zu schützen. In Schattendorf stand das Mitgliederverhältnis der Organisationen 70:30 für die demokratischen Kräfte.
Für den 30. Jänner 1927 plante die Frontkämpfervereinigung eine größere Versammlung, zu der aus den Nachbarorten und aus Wien Abordnungen erscheinen sollten. Die Schutzbündler wollten den Zuzug auswärtiger Gegner verhindern, sie marschierten zum Bahnhof und verprügelten die Ankommenden mit Lederriemen.
Um ca. 4 Uhr nachmittags marschierten die Schutzbündler am Gasthaus Tscharmann, dem Veranstaltungslokal der Frontkämpferorganisation vorbei, und schrien Schmähparolen. Die Söhne des Wirts, Josef und Hieronimus Tscharmann, sein Schwiegersohn Johann Pinter und etwa 15 andere Frontkämpfer zogen sich in die Privatwohnung der Tscharmanns zurück, wo sie einige Gewehre mit Jagdpatronen bereit gelegt hatten. Obwohl die Schutzbündler keinerlei Anstalten trafen, die Wohnung zu stürmen, schossen sie in die Menge.
Im nachfolgenden Strafprozess wegen Mordes verantworteten sie sich, sie hätten nur „Warnschüsse“ abgeben wollen bzw. hätten in Notwehr gehandelt. Beides entspricht nicht den Tatsachen. Die Schüsse wurden gezielt abgegeben, mehrere Personen wurden verletzt, fünf davon schwer. Und schließlich – wie ich schon am Beginn meiner Ausführungen dargelegt habe – der siebenjährige Josef Grössing und der invalide Hilfsarbeiter Matthias Csmarits aus Klingenbach, selbst Mitglied des Republikanischen Schutzbundes, getötet.
Die Sach- und Rechtslage im Strafverfahren war daher eindeutig. Selbst die bürgerliche „Neue Freie Presse“ schrieb: „...die Fehler des Republikanischen Schutzbundes bedeuten doch wenig im Vergleich zu der beispiellosen Rohheit, mit der zweimal gegen die Schutzbündler mit Gewehrkugeln geschossen wurde, ohne äußerste Bedrängnis, ohne Provokation, ohne übermäßige Sorge für Leib und Leben. Solche unerhörten Vorgänge müssen natürlich kochende Erregung erzeugen, Bedürfnis nach Rache.“
Das Geschworenengericht, das in Wien vom 5. bis 14.Juli 1927 zusammen trat, war anderer Meinung und fällte einen Freispruch. Die Justiz der damaligen Zeit entwickelte sich bereits zu einem Herrschaftselement der konservativen und autoritären Kräfte, sodass man bei vielen Urteilen ohne weiteres von „Klassenjustiz“ sprechen konnte. In diesem Fall ist eine solche Bewertung aber unangebracht. Die Geschworenenbank setzte sich gesellschaftlich ausgewogen aus vier Arbeitern, drei Beamten, einer Hausfrau, zwei Landwirten und zwei Gewerbetreibenden zusammen. Die zwölf Geschworenen – heute sind es acht – stimmten schließlich mit 7:5 für einen Schuldspruch, die Zweidrittel-Mehrheit wurde um eine Stimme verfehlt. Heute reicht eine einfache Mehrheit für eine Verurteilung aus. Der vorsitzende Richter – offenbar ein rechtlich und politisch wenig sensibler Mensch - bezeichnete bei der Verkündung des Urteils die Täter als „ehrenwerte Männer“.
Schon unmittelbar nach dem Ereignis in Schattendorf war es in ganz Österreich zu Demonstrationen und Streiks gekommen. Nun aber, als die Arbeiter die Zeitungsberichte über dieses Urteil lasen, gab es spontane Massendemonstrationen in der Wiener Innenstadt. Besonders befeuert wurde die allgemeine Aufregung durch einen nicht unverständlichen, aber in der Wortwahl unbedachten Leitartikel des Chefredakteurs Friedrich Austerlitz in der „Arbeiter-Zeitung“.
Die Demonstranten steckten den Justizpalast – das Symbol dieses ungerechten und nicht nachvollziehbaren Urteils – in Brand. Der Polizeipräsident Johann Schober ließ mit Rückendeckung des deutsch- nationalen Innenministers Karl Hartleb und des christlich- sozialen Bundeskanzlers Ignaz Seipel – genannt auch der „Prälat ohne Milde“ – in die Menge schießen und die Demonstranten mit gezücktem Säbel verfolgen. Die Folge: 89 tote Demonstranten, fünf tote Sicherheitskräfte und etwa 1.000 Verletzte.
Die Sozialdemokratie hatte die Demonstrationen nicht abgewendet, sich aber auch nicht an ihre Spitze gestellt. Sie stand einfach hilflos abseits. Die rechtskonservativen und autoritären Kräfte erkannten ihre Schwäche. Sie realisierten, dass es mit der Behauptung der Linken, sie könnten die Massen wie auf Knopfdruck mobilisieren und auch wieder zum Stillstand bringen, nicht weit her war. Bruno Kreisky brachte es später auf den Punkt: „Im gleichen Moment, in dem der Staat bewies, dass er sich traute, auf demonstrierende ‚Rote‘ zu schießen, war der Bann ihrer Politik gebrochen.“ Ab diesem Zeitpunkt ging es steil bergab in Richtung Diktatur.
Als Aufmarschbasis der sich verstärkenden autoritären Politik fungierten mehr und mehr die Betriebe und Unternehmen. Heimwehr-Gewerkschaften wurden gegründet, „gelbe“, von den Unternehmern abhängige Formationen, die die demokratischen – also freien, sozialdemokratischen Gewerkschaften, aber auch christliche und kommunistische - Gewerkschaften aus den Betrieben drängten.
Besonders tat sich hier wiederum die Alpine Montangesellschaft hervor. So war etwa am Bergbau in Eisenerz der Umgang mit jungen Menschen von einer Ideologie geprägt, in der sich autoritäre und reaktionäre Industriepolitik verwirklichen konnte.
Dazu war es notwendig, die Kinder schon früh zum widerspruchslosen Werkssoldaten zuzurichten. Und dabei konnte man offenbar nicht früh genug anfangen. So sah etwa der sogenannte „Beschäftigungsplan“ des Werkskindergartens für die Kinder der Arbeiterkolonie in Trofeng in Eisenerz unter anderem vor, dass – wortwörtlich – „Maschierübungen in Reih und Glied“ für die Zwerge anzuordnen seien. Begründung – wieder wortwörtlich: „Es ist ohne Weiteres verständlich, dass man zunächst einmal dort anfasst, wo der wenigste Widerstand ist, bei der Werksjugend, dass man zunächst einmal beginnt, die Jugend in das System der Bewirtschaftung einzuschalten.“
Bei der männlichen Jugend – und um diese handelt es sich eben in einem Bergbaubetrieb alten Zuschnitts – spricht man klar und deutlich von „Erziehungsfront“, die jungenMenschen werden früh mit den brutalsten Schlachtenschilderungen des Ersten Weltkriegeskonfrontiert. Da ist die Rede von „zerfetzten Gliedern“ und „formlosen Fleischmassen“. Wie gesagt: Lektüre für die Erbauung der Jugend. Der zukünftige Arbeiter soll sowohl an der Front als auch im Werk funktionieren und eigene Befindlichkeiten zurück stellen.
Ziel dieser perfiden Strategie war die vollkommene Maschine der Macht: Sie lässt nicht einmal die Wahl zwischen Anpassung und Tod. Alles was sie bietet, ist die verzweifelte Hoffnung auf Überleben bei siegreichem Funktionieren. Der Einzelne kann, soll und darf keine Entscheidung mehr treffen, die außerhalb der aufgetragenen Funktion liegt.
Freudig merkt die „Alpine-Post“ 1929 an: „In unseren Werkschulen werden die jungen Leuten nicht nur technisch vorgebildet, sie sind auch uniformiert und werden militärisch gedrillt, um für den Heimatschutz – eine Heimwehrformation -, wenn sie nach Verlassen der Schule in das Werk eintreten, einen geeigneten Nachwuchs zu bilden.“
In der Werkschule selbst herrscht lückenlose Kontrolle. Wörtlich wiederum in der Zeitung der „Alpine“: „Unsere Erziehung muss so weit gehen, dass wir uns bis in die kleinste Kleinigkeit um den jungen Menschen kümmern. Es werden ihm die Stiefel am Morgen nachgesehen, es wird festgestellt, ob er gekämmt und sauber ist. Es hat sich gezeigt, dass dies bitter notwendig ist. Einmal ordentlich zugefasst, dann erreichen wir schon etwas.“
Und früh wird der junge Mensch auf die Ausbeutung vorbereitet, die ihm ein Leben lang als Bergmann im Werk erwartet. Auf schwere und gesundheitsschädigende Arbeit ebenso wie auf den kargen Lohn, mit dem er kaum seine Familie mit dem Notdürftigsten versorgen kann. Während der Ausbildung, in der er auch schon in den Produktionsprozess eingebunden ist, erhält er selbstverständlich keine Lehrlingsentschädigung wie heute, sondern die Eltern haben für den Ausbildungsplatz zu bezahlen.
Freilich kann sich das Unternehmen dabei auf „wissenschaftliche Erkenntnisse“ der damaligen Zeit stützen. Das maßgebliche Handbuch – in den Unternehmen der Alpine die „Bibel“ sozusagen – heißt: „Die menschliche Arbeitskraft im Produktionsvorgang“. Und da wird den jungen Menschen zu allererst eine Parole vorgegeben, die über allem steht: „Zeit ist Geld“.
Denn – wieder wörtlich: „Der Junge ist so eingestellt, dass er den ständigen Zeitdruck nicht als Kontrolle empfindet. Er muss wissen, dass er mit der Zeit zu rechnen hat. Wir schreiben dem Jungen auch oft die Zeit vor und sagen ihm: Du musst mit der Zeit rechnen, denn später wirst du Akkordarbeiter.“
Die autoritäre – um nicht zu sagen totalitäre – Erziehung der jungen Menschen betraf freilich auch die Mädchen. Sie wurden in der vom Unternehmen abhängigen Hauswirtschaftsschule gedrillt. Motto: Die Mädchen sollten den ganzen Tag mit Kochen, Putzen, Nähen, Stopfen und anderem beschäftigt werden, um „nicht auf dumme Gedanken“ zu kommen. Ziel war es, dem zukünftigen Bergmann eine billige und widerspruchslose Arbeits- und Reproduktionskraft zur Verfügung zu stellen, die geradezu mit der Schere optimal zugeschnitten wird. Eine Illustration aus einer der Werkspublikationen der Zwischenkriegszeit, die Bände spricht.
1930 verabschieden sich die Heimwehren im „Korneuburger Eid“ endgültig von der Formaldemokratie, die klassische Gewaltenteilung –Exekutive, Legislative und Judikative, das Herzstück jeder Demokratie – sollte ersetzt werden durch den „Gottes Glauben, den eigenen harten Willen und das Wort der Führer“. Zum Exekutor dieses Programms wurden Engelbert Dollfuß und ein Klüngel aus Politdesperados, die ab März 1933 – zeitgleich im Übrigen zu Deutschland, da war ja ab Jänner Hitler an der Macht – scheibchenweise die demokratische Erste Republik Österreich demontierten.
Der Nationalrat wurde ausgeschaltet, über die Medien die Zensur verhängt, der Verfassungsgerichtshof, der die Verfassungsbrüche aufzeigen hätte können, lahmgelegt, der Republikanische Schutzbund – nicht aber die Heimwehren – ebenso verboten wie die Kommunistische Partei, die demokratische Willensbildung in den Arbeiterkammern beseitigt und – natürlich mit Hintergedanken, um möglichen Widerstand abzuschrecken – die Todesstrafe wieder eingeführt. Die Abschaffung der Todesstrafe war ein Kulturgut, auf das die junge Republik Österreich besonders stolz gewesen war.
Die Sozialdemokratie wich zurück, sie wollte einen bewaffneten Konflikt vermeiden und verlegte sich aufs Verhandeln. Vergeblich. Als dann im Februar 1934 der Aufstand des Schutzbundes losbrach, war es längst zu spät. Der Generalstreik – der bei Auflösung des Parlaments 1933 noch funktionieren hätte können – missglückte, die demokratischen Kräfte wurden von Bundesheer, Gendarmerie, Polizei und Heimwehren mit Leichtigkeit geschlagen. Am 1. Mai 1934 – eine besondere